Über Annette Besgen
Schon immer interessierte mich die Begegnung mit der alltäglichen Realität. Vor allem das Banale, das wenig Beachtete und scheinbar Nebensächliche reizte mich und offenbarte sich mir schon früh mit all seiner Magie und unaufdringlichen Anwesenheit. Die sichtbare, dingliche Welt wurde und blieb der Impuls für meine Kunst.
Seit Anfang der 90er Jahre entstanden Ölbilder und Zeichnungen, die sich auf Motive im urbanen oder industriellen Raum beziehen und so unterschiedliche Themenbereiche wie Hausfassaden, Schriftzüge an Wänden, Situationen unter Brücken, Stahlkonstruktionen, Öltürme und andere röhrenhafte Gebilde („tubes“) und Schatten von meist schmiedeeisernen Gittern auf Gehwegen, Plätzen und Straßen.
Hier, wie bereits bei der Entwicklung meiner ersten Bildkonzepte, ging ich von Fotografien aus. Die Festlegung des Bildausschnitts und die kompositionelle Anlage meiner Bilder verweisen auf dieses zwischengeschaltete Medium.
Durch den Sucher der Kamera blickend, wird die Realität bereits im Ausschnitt verändert und in einen neuen Kontext gesetzt. Die Ausschnittnahme beeinflußt die Komposition, Ordnung und Gliederung des Bildes. Insofern ist die Fotografie für mich eine Skizze, ein malerisches Mittel hin zu der späteren Bildanlage.
Ein anderes Phänomen, das zur Triebfeder für meine Kunst wurde, ist das Licht, bzw. sind Licht und Schatten. Sie ergeben sich nie von künstlichen Lichtquellen her, sondern lassen sich stets auf Naturlicht, also Sonnenlicht, allein zurückführen.
Die Wirklichkeit der gegenständlichen Welt ist untrennbar mit deren Schatten verbunden. Das Auftreten des Schattens wird als Beweis für die Realität, für die Wirklichkeit eines Objekts angesehen. Die Fotografie hält die immatrielle Erscheinung von Licht und Schatten als Form fest, gleichwertig neben den anderen Bildgegenständen. Überdies werden Licht- und Schattenfelder einer wirklichen Raumsituation durch den Übertrag in ein Kamerabild zu einem Gliederungsprinzip des Bildraums. Das Foto dient also auch hier als Vorstufe für den Übertrag in Malerei.
Schatten haben etwas Flüchtiges an sich, sie lassen sich nicht festhalten, verändern sich dauernd, sind abhängig vom gegebenen Lichteinfall und können gar völlig verschwinden. Durch den Wechsel von Licht und Schatten nehmen Gegenstände und Körper Gestalt an, feinste Reflexe auf der Oberfläche lassen uns die stoffliche Beschaffenheit dieser Gegenstände oder Körper erahnen. Den Schatten ist immer der Aspekt der Zeitlichkeit inhärent. Einerseits verweist der Schatten auf einen spezifischen Augenblick, in dem das Bild verharrt, andererseits impliziert er aber auch das Prinzip der Sonnenuhr und damit den Fortgang der Zeit.
Das Unterwegssein prägte meine Kunst in spezifischer Weise. D.h. aber nicht, daß die „Fundorte“ meiner Motive die Bilder immer derart bestimmen, daß für den Betrachter ablesbar wäre, woher sie stammen. Bei den Röhrenbildern rühren die Motive vor allem von Öltürmen im Mittleren Westen der USA, aber auch von Industrieanlagen am Seineufer („Port de Tolbiac“), von Lüftungsröhren des Centre Pompidou („Beaubourg V, VI, VII“) oder Außenanlage einer Fabrik im Oberbergischen („Wundi I“). Die Motive zu den Bildern mit Schatten von schmiedeeisernen Gittern habe ich zunächst bei einem längeren Arbeitsaufenthalt 2004 in Rom gefunden, auf Gehwegen und Straßen („Via San Martino“ oder „Via Monte Testaccio“) oder auf Außenwänden von Kirchen oder deren Vorplätzen (San Pietro in Vincoli I + II“), später dann in Paris („Parc Monceau“, „Square du Temple“, „Quai de l’Archevêché“), Hamburg („Schwanenwik“) und Antwerpen („Vlaamse Kaai“).
Die Festlegung des engen Bildausschnitts drängt die ursprüngliche Situation bis an den Rand der Unkenntlichkeit und zeigt eine Gegenständlichkeit, die nichts weiter meint als das, was der Betrachter sieht, und sich dadurch Interpretationen und Deutungen entzieht. Dem Gegenständlichen verhaftet, ist meine Kunst zugleich bestrebt, das Gegenständliche zu verlassen. Von Anfang an ging es mir darum, die mittels der Fotografie aufgedeckte Abstraktion der Wirklichkeit ins Bild zu setzen. Motivwahl, Auschnitthaftigkeit, kompositionelle Strenge, Minimalismus in Bezug auf Bildgegenstände und Farben und ein kaum sichtbarer Malduktus tragen zu der abstrakten Qualität der Bilder bei. Das Bild gewinnt in seiner Ausgestaltung eine Qualität von Autonomie und Bedeutung, die unabhängig von jeglicher außerbildlichen Realität existiert.
Bei den Arbeiten haben wir es mit einer irritierenden Dialektik von Abbild und Bild zu tun. Für den Betrachter ist zwar eine gewisse Erkennbarkeit gegeben, aber so rudimentär, daß es ihm kaum möglich ist, eindeutige Rückschlüsse auf die außerbildliche Wirklichkeit zu ziehen. Meine Bilder zielen nicht auf Identifizierung, sondern eröffnen die Freiheit zu schauen. Alles Anekdotische, alles Lebhafte oder Ortsspezifische ist ausgeblendet zugunsten einer größeren formalen Komposition und Abstraktion. Meine Bilder sind nicht durch eine narrative Vielfarbigkeit bestimmt. Ich verleihe meinen Gemälden und Zeichnungen eine eindeutig bestimmte Tonigkeit, was zur abstrakten Wahrnehmung meiner Arbeiten zusätzlich beiträgt.
Im Jahre 2003 wurde meine künstlersche Entwicklung auch für mich völlig überraschend unterbrochen bzw. durch eine neue, andersartige Richtung erweitert. Ein Stipendium ermöglichte mir einen längeren Arbeitsaufenthalt in Omaha, Nebraska. Von dort aus unternahm ich ausgedehnte Fahrten durch den Mittleren Westen der USA. Monatelang sah ich mich einer Landschaft „ausgesetzt“, die mich durch ihre monotone Weite und Kargheit beeindruckte und meine Kunst nicht unberührt ließ. Vom Auto aus nahm ich den Blickwinkel der Passantin an. Fahrender Weise machte ich von der Landschaft Schnappschüsse mit dem Blick des mobilen, geschwindigkeitsorientierten Menschen des 21. Jahrhunderts und fing den partiellen Augenschein des Flüchtigen ein. Ich bediente die Kamera so, daß sie den schnell vorbeiziehenden Vordergrund unscharf und den Hintergrund eher scharf erfaßte.
Im Auto oder Zug sitzend, ist es dem menschlichen Auge nur bedingt und kurzzeitig möglich, die verwischten Konturen gaz nah am Fenster zu erfassen. Normalerweise werden sie über lange Strecken einfach ausgeblendet, und wir haften unsere Blicke an die Szenen im Mittel- und Hintergrund. Den Blick nach oben gewendet, verhält sich der weit entfernte Himmel im Gegensatz dazu auch bei hoher Geschwindigkeit wie eine sich nur langsam verändernde, meditative Größe. Doch der Himmel ist in anderer Hinsicht schwer greifbar, da die Wolken keine fest zu umreißenden Gegenstände sind. Sie sind flüchtig, wechseln fortwährend ihre Gestalt und sind nicht festzuhalten, es sei denn durch das Foto, das uns die Formen der Wolken vorgibt.
Im Atelier (in Omaha) begann ich mit farbigen Kreidestiften erstmalig großformatige „Landschaften“ auf Papier zu zeichnen, Himmel und Erde, einzeln, oder aufeinander bezogen, jedoch in demselben ausgeprägten Querformat (in der Größe: 100 x 233 cm) und ohne Horizont. In langsamen, bedächtig kreisenden, fast meditativen Bewegungen, die in einem spannungsvollen Wiederspruch zu der Flüchtigkeit der dargestellten Szene stehen, erfahren die Zeichnungen einen allmählichen Verdichtungsprozeß, der ohne die fotografische Vorlage gar nicht denkbar wäre. Die Strukturen ordnen sich in horizontal verlaufende Bildreihen oder -stufen, mit Partien von unterschiedlichen Helligkeitswerten, Bündelungen und Auflösungen, die das Auge des Betrachters in ständiger Unruhe und Suche belassen. Auch die Himmeldarstellungen werden durch ihre Wolken einem horizontalen Ordnungsprinzip unterworfen, der den Bildraum mal offen, mal dicht, mal hell oder dunkel, mal bewegt oder ruhig komponiert.
Der Aspekt der Zeit wird in der Gegenüberstellung der Zeichnungen von Himmel und Erde polarisiert: Die verwischten Landschaften zeigen den nicht greifbaren, schnell vergehenden Moment, die Wolken der Himmeldarstellungen machen das langsame Vergehen der Zeit spürbar. Das macht deutlich, daß wir es mit unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi zu tun haben, ob wir nämlich in der Wirklichkeit, im Auto sitzend, sozusagen gleichzeitig, Himmel und Erde erleben, oder sie auf dem fotografischen bzw. gezeichneten Äquivalent getrennt voneinander sehen.
So sehr mich auf meinen Fahrten durch den Mittleren Westen die Landschaften in ihren Bann zogen, konnte meine Wahrnehmung die Motive, die einen offenkundigen Bezug zu meinen bisherigen Arbeiten knüpften, nicht übergehen und außer acht lassen. Auch einsame Landstriche in den Weiten Nordamerikas werden hin und wieder durch industrielles Ödland oder simple Anzeichen von menschlicher Anwesenheit unterbrochen, wie z.B. Tankstellen, Themenparks, Ölfelder etc. Unvermittelt auftauchende Öltürme ließen mich den Wagen anhalten, um in Serien diese, sich in Wiederholungen definierende „Architektur“ der amerikanischen Highways zu fotografieren, womit wir wieder bei den eingangs beschriebenen Vor- Ort-Bildern wären, ohne vorher erwähnt zu haben, daß sich die Motivsuche bzw. das Motivfinden zu diesen so unterschiedlichen Bildprägungen gleichzeitig ereignete.
Meine Aufmerksamkeit polarisierte sich auf diese so verschiedenen und doch untrennbar miteinander verbundenen und charakteristischen Eindrücke „of driving long distances“ im Mittleren Westen und Westen der USA, sprich: die Ausdehnung der Natur und die stoische Wiederholung anästhetischer Industrie- und Vergnügungsbauten. Beide Themenbereiche, die „Landschaft“ und die „Türme“ oder „Röhren“ stehen bis heute im Mittelpunkt meiner künstlerischen Auseinandersetzung, wobei ich mich momentan eher auf die eher filigranen Schattenmuster von Begrenzungen innerstädtischer Architekturen konzentriere, wie Kirchen, Plätze, Friedhöfe, Brücken, Parks, Rathäuser und andere städtische, aber auch private Besitztümer.
In Anbetracht der gestalterischen Präsenz meiner Malerei ist es nicht wirklich wichtig, sich die ursprünglichen Motive und Objekte vorzustellen, doch ist ihre Auswahl keineswegs beliebig. Sie sind der ursächliche Anlaß, mich dem Bildraum und der Bildfläche in immer wieder neuen abstrakten Formulierungen zu nähern, geprägt von subtilen Differenzierungen in Farbigkeit, Räumlichkeit und Dichte.
Meine Bilder schwanken zwischen subtiler Monochromie und entgegengesetzter Farbigkeit, zwischen harten Flächen und saugenden Tiefen, zwischen Licht und Schatten, Konfrontation und Meditation, zwischen Zeitmoment und Zeitlosigkeit.
In einigen meiner Arbeiten der letzten Jahre nehme ich das Thema „Schrift“ an oder auf Wänden wieder auf. Dabei spielt der Zusammenhang zwischen Wörtern und deren Bedeutung in dem Moment, in dem ich die Zeichen sehe und fotografiere, überhaupt keine Rolle. Wichtig für mich ist allein das Spannungsverhältnis von Licht, Schatten, Farbe und Buchstaben als Gegenständlichkeit.
Im Gegenteil, für mich ist das sich nicht unmittelbar Erschließende von einzelnen Worten oder auch ganzen Sätzen von besonderem Reiz. So sind Schrift- oder Zahlenbildern entstanden, die durch das Ausschnitthafte und Fragmentarische der Schrift mit diesem „Geheimnis“ spielen, neue Inhalte entstehen lassen oder andere und fremde Bedeutungen vorgeben.
Mit diesen Arbeiten nehme ich Bezug auf eine ganze Serie von Bildern, die ich größtenteils Anfang bis Mitte der 1990er Jahre gemalt habe und nun in neuen Variationen eine Renaissance erhalten. Damals nannte ich diese Arbeiten „META-PRODUCTS“, deren Elemente in Schrift und abstrakter Komposition gleichsam metaphysisch über ihre eigene Realität hinausweisen. Vergleicht man z.B. die entstandene Gemälde mit den fotografischen Vorlagen, wird deutlich, wie sehr ich auf eine bildimmanente Wirklichkeit hin arbeite.
Zitat von Gabriele Uelsberg in ihrem Text „Metastrukturen in Metaproducts“ (im Katalog META-PRODUCTS):
„Alles Anekdotische und auch Klärende im Abbild wird eliminiert zugunsten einer sich strukturell darstellenden Abstraktion und formalen Komposition. Gerade im Widerspruch zwischen dem malerischen Realismus und der kompositionellen Strenge wird der Betrachter getäuscht über das vermeintlich Vertraute und zum Nachdenken gebracht über die Wirklichkeit, was die Imagination in besonderer Art und Weise fördert. ...
Die Metaprodukte, die hier suggeriert werden, waren in der Realität nie gemeint, sie entstehen auf Basis der Malerei in der Fläche und durch die Reflektion in der Betrachtung. Die Verdichtungen von Farb- und Flächensetzungen ... lassen sich natürlich auf den ersten Blick wie getreue Abbilder der Wirklichkeit lesen, gewinnen aber an der Wand eine Eigenständigkeit, die den Betrachter immer wieder auf das reine Sehen zurückwirft und ihn nicht zu sehr an der Vorstellung festhalten lässt, dass er es mit einer realen Fassade und einer realen Information zu tun hat.“
Auch andere Themen meines bisherigen Schaffens werden in der jüngsten Werkphase wieder aufgegriffen, wie z.B. Neonröhren, manchmal in Verbindung mit Schrift, manchmal ohne, Stoffliches in Form von Verpackungen, Verhüllungen oder zerknitterten Papierbahnen, gusseiserne Gitter, Ornamente, Architektonisches und Florales.
So sind die neuesten Bilder gleichsam eine Zeitreise durch mein Gesamtoeuvre. In ihnen begegnen uns aber auch Ausschnitte aus den in den letzten beiden Jahren von mir besuchten Städte, hauptsächlich Barcelona, Lissabon und Oviedo und kleinere Ortschaften in Nordspanien.
Die Bildinhalte sind als gegenständliche Motive erkennbar, aber - und das ist das wesentliche Merkmal meiner Kunst – diese Bildgegenstände werden vom Sonnenlicht beschienen und erzeugen Schatten.
Zitat von Andreas Fiedler in seinem Text „Wenn Schatten auf die Leere verweisen“ (im Katalog META-PRODUCTS):
„Die malerische Auseinandersetzung mit Licht-Schatten-Phänomenen ist quasi als Generalbass im bisherigen Oeuvre von Annette Besgen präsent. Immer wieder lässt sie sich vom faszinierenden Spiel der Schatten in Bann ziehen und friert einen herausgegriffenen Moment dieses Spiels auf der Leinwand ein. Schatten haben als Erscheinungen etwas Flüchtiges an sich. Sie lassen sich nicht festhalten, verändern sich dauernd, sind abhängig vom gegebenen Lichteinfall und können gar völlig verschwinden. Durch den Wechsel von Licht und Schatten nehmen Gegenstände und Körper Gestalt an, feinste Reflexe auf der Oberfläche lassen uns die stoffliche Beschaffenheit dieser Gegenstände erahnen. ...
Besgens gemalte Schatten sind jedoch keine Modellierschatten, sondern Schlagschatten, denen der Aspekt der Zeit inhärent ist. Ihre Bilder erzählen keine Geschichten, in ihnen ist praktisch nie eine Handlung zu beobachten, da ist kaum Anekdotisches sichtbar, keine Spur von all dem, was nur ein einziges Mal auftreten könnte. Nur der Schatten bringt die Komponenten der Zeitlichkeit und der Einzigartigkeit ins Spiel. Einerseits verweist der Schlagschatten auf einen spezifischen Moment, auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt, in dem das Bild verharrt, andererseits impliziert er aber auch das Prinzip der Sonnenuhr und damit den Fortgang der Zeit. ...
Die Ewigkeit verbindet sich in gewisser Weise mit dem Augenblick.“